Fast 4000 Kilometer und drei Zeitzonen weiter im Osten findet im russischen Jekaterinburg die nur alle zwei Jahre ausgetragene Weltmeisterschaft des Amateurbox-Weltverbandes AIBA statt. Insgesamt werden rund 450 Athleten aus 87 Nationen teilnehmen. Austragungsort ist die „Ekaterinburg EXPO Arena“ (mit 5.000 Zuschauerplätzen), wo rund insgesamt 400 Kämpfe um die WM-Titel in acht Gewichtsklassen stattfinden werden.
Nach einer kräftezehrenden Vorbereitungszeit rückt das Highlight des Jahres nun in greifbare Nähe. Unlängst trainierten die Mitglieder der deutschen Nationalmannschaft in Sölden in den Ötztaler Alpen unter Höhenluftbedingungen. Kurz darauf erfolgte ein weiteres zweiwöchiges Höhentraining am Schwarzwälder Feldberg. Zum Abschluss dieser Einheiten traf man sich im August mit dem französischen Nationalteam in Pfullingen zu einem Ländervergleich.
Normalerweise dient eine WM wenige Monate vor den Olympischen Spielen der Qualifikation für die größte Sportveranstaltung der Welt. Nicht so diesmal. Die WM in Russland wird vom Weltverband Aiba verantwortet. Der hat bei Olympia aber kein Zutrittsrecht, ist vom Internationalen Olympischen Komitee IOC bis auf Weiteres suspendiert. Es waren Sätze, die die Sportwelt bislang noch nicht gehört hatte. Sätze, die eine der traditionsreichsten Sportarten im olympischen Programm nachhaltig verändern werden. Doch Thomas Bach, der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees, wirkte entschlossen, als er die Entscheidung der IOC-Vollversammlung Ende Juni in Lausanne verkündete: Der olympische Boxverband AIBA wird bis auf weiteres von den Olympischen Spielen in Tokio ausgeschlossen.
Die Gründe sind bekannt: katastrophale Finanzlage, belastete Führung, korrupte Kampfrichter. Das IOC verlangt tiefgreifende Änderungen und hat eine Task Force gebildet, um das Olympia-Turnier der Boxer in Tokio zu organisieren - mit eigener Qualifikation, aber ohne Aiba. Die Russen als WM-Ausrichter wollten das Championat schon zurückgeben, weil sie eine starke Entwertung ihre Produkts befürchteten. Immerhin vier Millionen Dollar mussten sie für die Austragungsrechte an die Aiba zahlen. Zwei Jahre zuvor bei der WM in Hamburg war weniger als die Hälfte verlangt worden. Die WM-Rückgabe war aber schnell vom Tisch. Die Top-Verbände kommen allesamt nach Jekaterinburg, wollen Titel sowie Punkte für die Weltranglisten. In der Aiba herrscht derweil Chaos. Der Verband ist nahezu pleite, die Insolvenz droht, eine Auflösung wurde diskutiert.
Ohne Aiba geht in Tokio aber nichts. Die Kampfrichter für Olympia kommen allesamt vom suspendierten Weltverband, werden zuvor aber von einer Unternehmensberatung überprüft. Als Reaktion auf Skandalurteile waren nach Rio 2016 alle 36 Kampfrichter von der Aiba suspendiert worden. Die neue Crew soll sich in Jekaterinburg beweisen. Die neue Qualifikation von Februar bis Mai 2020 unter IOC-Hoheit ist zeitlich gepresst, hat aber auch positive Aspekte.
Dennoch haben alle Topnationen Athleten für die AIBA-Weltmeisterschaft in Russland gemeldet", sagt Michael Müller, der Sportdirektor des Deutschen Boxsportverbands (DBV). "Deshalb ist die WM für uns ein wichtiger Gradmesser und eine gute Gelegenheit für unsere Athleten, internationale Erfahrung zu sammeln". Die sportliche Qualität bei der WM in Jekaterinburg wird also hoch sein, genau wie bei den Weltmeisterschaften zuvor. Und dennoch ist die WM aus Sicht des DBV vor allem ein Vorbereitungsturnier für das kommende Jahr.
"Mit den Europameisterschaften in Minsk, den Weltmeisterschaften in Jekaterinburg und den Military World Games in Wuhan (China) im Oktober gibt es 2019 drei hochklassige internationale Veranstaltungen. So konnten und können wir jedem unserer Spitzenathleten ermöglichen, sich international zu präsentieren. Diese Erkenntnisse lassen wir dann in das endgültige nationale Auswahlverfahren im Dezember einfließen", sagt Sportdirektor Müller. Dann soll mit Hilfe eines verbandsinternen Turniers entschieden werden, wer für Deutschland an der Olympia-Qualifikation der Boxer im kommenden Jahr teilnehmen darf.
"Pro Gewichtsklasse sollen zwei Athleten für die Qualifikationsturniere nominiert werden", so Müller. Der DBV versucht die ungewohnte Situation mit dem neuen Qualifikationsmodus positiv zu sehen: "Bei den IOC-Turnieren im kommenden Jahr können sich sowohl Männer als auch Frauen beim gleichen Event qualifizieren. Das erleichtert uns die Organisation immens", sagt der Sportdirektor. Bei der AIBA werden die Weltmeisterschaften für Frauen und Männer getrennt, an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten durchgeführt. Die AIBA-WM der Damen beginnt in gut einem Monat - ebenfalls in Russland, allerdings nicht in Jekaterinburg, sondern in Ulan Ude.
Da die Bundestrainer an den Olympia-Stützpunkten in Deutschland in der Regel sowohl die Frauen als auch die Männer trainieren, führen diese unterschiedlichen WM-Termine regelmäßig zu Problemen beim Boxsportverband. Und Müller sieht einen weiteren Vorteil des neuen Qualifikationsmodus für die Spiele in Tokio: "Es ist immer ein Risiko, wenn ein Athlet schon ein gutes Jahr im Voraus für die Spiele qualifiziert ist. Verletzt sich der Boxer dann vor den Olympischen Spielen, verfällt das Startrecht beim olympischen Boxturnier ersatzlos. Der Verband darf dann keinen anderen Athleten schicken." Die Termine im Frühjahr seien deshalb eher ein Vorteil für den Verband, so Müller. Es sei genug Zeit für ein faires Auswahlverfahren der Athleten. Und nach der Qualifikation bliebe auch genügend Raum für eine vernünftige Vorbereitung auf die Spiele.
All das klingt aus Sicht des Deutschen Boxsportverbands schlüssig. Doch rational betrachtet ist der Weg für die Athleten zu den Olympischen Spielen länger geworden. Eine erfolgreiche WM verbessert zweifellos die Chancen der Boxer, für Deutschland zu den Olympischen Spielen zu fahren. Doch ist sie, anders als bislang, keine Garantie für die Teilnahme in Tokio. Denn zusätzlich zum veränderten Qualifikationsmodus ist auch die Zahl der Gewichtsklassen der Männer im Vergleich zu den vergangenen olympischen Turnieren reduziert worden - eine Maßnahme, um mehr Frauen als bislang eine Startmöglichkeit beim Turnier in Tokio geben zu können. Diese Annäherung der Teilnehmerzahl bei Männern und Frauen war mehr als überfällig. Bei den vergangenen beiden Olympischen Spielen konnten die Frauen nur in drei Gewichtsklassen antreten, in Tokio werden es immerhin fünf sein. Doch natürlich führt diese Maßnahme auch dazu, dass die Konkurrenz um die Startplätze bei den Männern größer wird. "Es ist ja im Boxen eine alte Regel, dass ein Boxer, der aus einer höheren in eine niedrigere Gewichtsklasse wechselt, dort noch stärker ist. Das müssen wir als Verband beim Auswahlprozess natürlich berücksichtigen", sagt der DBV Sportdirektor.
Ein Athlet, der in seiner Gewichtsklasse mit neuer Konkurrenz klar kommen muss, ist Raman Sharafa, einer der konstantesten DBV-Boxer in diesem Jahr. Sharafa boxt im Leichtgewicht bis 57 kg. Er hat beim deutschen Prestigeturnier, dem "Cologne Boxing World-Cup" Silber und bei den Europameisterschaften in Minsk Bronze geholt. Er ist deshalb auch eine der Medaillenhoffnungen des DBV bei der WM in Jekaterinburg - auch wenn die Auslosung am Sonntag einen schweren Turnierweg für Sharafa ergeben hat. Schon in der zweiten Runde wartet der aktuelle Weltmeister aus Kasachstan auf den Boxer vom Olympiastützpunkt in Heidelberg.
"Raman ist bei den Europameisterschaften in Minsk nur durch Pech im Halbfinale ausgeschieden", sagt DBV-Sportdirektor Müller. "Er musste seinen Halbfinalkampf in Minsk wegen einer Verletzung aufgeben, obwohl er die erste Runde bereits gewonnen hatte". Der Finaleinzug blieb Sharafa verwehrt und er musste sich mit einer Bronzemedaille zufriedengeben. Sharafa hat gute Chancen auf die Teilnahme an der Olympiaqualifikation im kommenden Jahr. Doch auch ein gutes Ergebnis bei der WM in Jekaterinburg wird ihm keine Sicherheit in dieser Frage geben.
"Eine Vorentscheidung, wer in die Olympiaqualifikation gehen darf, ist noch in keiner Gewichtsklasse gefallen", sagt Michael Müller. Sharafa wird sich beim endgültigen Entscheidungsturnier des DBV Ende des Jahres zum Beispiel auch gegen Hamsat Shadalov aus Berlin durchsetzen müssen. Shadalov ist bei den Europameisterschaften in Minsk noch in der Klasse bis 60 kg angetreten, aber für die Chance auf Olympia wird er in die niedrigere Gewichtsklasse wechseln. Und auch er gilt als einer der Hoffnungsträger des Deutschen Boxsportverbands.
Beim Verband steht also kurz vor der WM alles im Zeichen der Spiele in Tokio - und der Qualifikationsturniere des IOC im kommenden Jahr. Und dennoch gibt es auch für die anstehenden Weltmeisterschaften Zielvorgaben - wenn auch zurückhaltende. "Zwei Medaillen wären schon schön", sagt Müller dazu. Damit würde das unterm Strich enttäuschende Ergebnis der vergangenen AIBA-Weltmeisterschaften 2017 in Hamburg etwas verbessert. Damals gewann Abass Baraou, der mittlerweile zu den Profis gewechselt ist, als einziger deutscher Boxer eine Medaille. Im Weltergewicht bis 69 kg holte er Bronze.
Dass es bei dieser Weltmeisterschaft mehr Medaillen werden, dafür könnten auch Nelvie Tiafack und Ibrahim Bazuev vom Kölner Olympiastützpunkt des Deutschen Boxsport-Verbands sorgen. Tiafack hat wie Raman Sharafa eine Bronzemedaille bei den Europameisterschaften gewonnen und dabei sehr starke Gegner aus Europas Spitze im Superschwergewicht besiegt. Halbschwergewichtler Ibrahim Bazuev ist bei der WM in Hamburg 2017 überraschend Fünfter geworden. Und die Auslosung in Jekaterinburg gestern hat ihm einen durchaus verheißungsvollen Turnierweg beschert. Erst im Viertelfinale käme es zum Duell mit einem Athleten aus der Weltspitze. Auf den Turnierfavoriten aus Kuba träfe Bazuev im Halbfinale.
Sharafa, Bazuev, Tiafack - sie alle sind Hoffnungsträger, des olympischen Boxens in Deutschland. Doch egal wie gut ihre Ergebnisse bei den Weltmeisterschaften in Jekaterinburg auch sein werden - sie sind erstmal nur ein Bewerbungsschreiben, ein Baustein auf dem Weg nach Tokio. Das sind die Folgen des Skandals um den olympischen Boxverband, an dessen Ende der Olympiaauschluss der AIBA stand. Ein Skandal, dessen Schatten deutlich auf den Weltmeisterschaften in Jekaterinburg liegen wird.
Die Eröffnungsfeier wird im Convention Center in Anwesenheit von den Olympiasiegern bzw. Weltmeistern Oleg Saitov, Alexey Tischchenko and Egor Mekhonsev als „Gesichter der WM“ stattfinden. Und hier kommt die Mannschaftsaufstellung unter der Mannschaftsleitung von Martin Volke und Cheftrainer Eddy Bolger:
52 Kg - Salah Ibrahim - Nordrhein-Westfalen
57 Kg - Sharafa Raman - Bayern
63 Kg - Wladislaw Baryshnik - Baden-Württemberg
69 Kg - Nick Bier - Niedersachsen
75 Kg - Andrej Merzljakov - Bayern
81 Kg - Ibrahim Bazuev - Nordrhein-Westfalen
91 Kg - Ammar Abduliabbar - Hamburg
91+Kg- Nelvie Tiafack - Nordrhein-Westfalen
Wir wünschen dem deutschen Team eine gute Deckung und viel Erfolg!
Autor: DOSB/Sportschau.de/DBV