Unschlagbar: Mit einer niemals zuvor erreichten Dominanz gewannen die deutschen Tischtennis-Herren bei der Mannschafts-EM in Nantes zum achten Mal seit 2007 den Titel. Durch ein 3:0 im Finale gegen Portugal machte das Top-15-Trio Boll, Ovtcharov und Patrick Franziska mit einer "weißen Weste" seine erfolgreiche Titelverteidigung so überlegen wie kein EM-Champion zuvor perfekt.
Mit ihrer höchst imponierenden Rekordbilanz von 15:0 Siegen holten die WM-Zweiten als erstes Herren-Team in der über 60-jährigen EM-Geschichte ohne den Verlust auch nur eines einzigen Matches Mannschafts-Gold. Dadurch setzten die Schützlinge von Bundestrainer Jörg Roßkopf weniger als ein Jahr vor Olympia in Tokio ein Ausrufezeichen.
"Ich bin stolz auf unsere sehr starke Mannschaft. Es ist gut, dass wir im Moment in Europa alles gewinnen", kommentierte Boll die Demonstration der Stärke. Auch Ovtcharov betonte das hohe Niveau im Sieger-Team: "Unsere Stärke ist, dass der Druck nicht nur auf einem ruht, sondern wir drei Spitzenspieler haben. Selbst wenn einer einen schwarzen Tag erwischen würde, könnten die anderen einspringen. Das macht es für uns viel entspannter als für die meisten anderen."
EM-Rekordsieger Boll vergrößerte durch sein siebtes Mannschaftsgold seine einmalige Titelsammlung nochmals. Zusammen mit sieben Einzel-Erfolgen und fünf Titelgewinnen im Doppel stehen für den 38-Jährigen nunmehr 19 Triumphe bei kontinentalen Championaten zu Buche. Auf das Gold von Nantes waren Boll, Ovtcharov und Franziska (Saarbrücken) geradezu programmiert. Momentan ist Roßkopfs Mannschaft auf dem Kontinent konkurrenzlos. Mehr als drei Spieler in den Top 15 der Weltrangliste hat derzeit lediglich Weltmeister und Olympiasieger China aufzubieten.
Entsprechend souverän nahmen "die Chinesen Europas" an der Atlantikküste jede Hürde. Ob Tschechien und Russland in der Vorrunde, Slowenien im Viertelfinale oder Gastgeber Frankreich im Halbfinale - kein Herausforderer hatte gegen die geballte Qualität der Europaspiele-Sieger eine Chance. "Das", meinte Roßkopf, "zeigt die Klasse unserer Mannschaft." Den nach allen vorherigen Erfolgen ungebrochenen Ehrgeiz des deutschen Teams verdeutlichte Roßkopf, indem der Ex-Doppelweltmeister für jede Begegnung sein stärkstes Trio in die Box schickte. Im gerade rund 100-minütigen Finale lieferten seine Spitzenspieler nur einmal mehr zuverlässig, auch wenn ausgerechnet der Weltranglistensiebte Boll im zweiten Einzel gegen Joao Monteiro den einzigen Satzverlust seines Teams im Finale quittieren musste. Insgesamt allerdings gaben Boll und Co. in ihren 15 Matches nur 13 Sätze ab. Standesgemäß die beste EM-Quote erreichte Einzel-Europameister Boll mit 15:3 Sätzen bei seinen fünf Siegen.
Ihre Siegesfeier nach der denkwürdigen Tischtennis-EM verlegten Timo Boll und Jörg Roßkopf kurzerhand auf das Hotelzimmer. Sollten die Jüngeren doch ausgehen, im Nachtleben von Nantes den Titel begießen, der Routinier und sein Bundestrainer hatten Besseres vor. "Wir haben die NFL-Saison eingeläutet", erzählte Football-Fan Roßkopf, "wir haben gemeinsam geschaut und gefachsimpelt."
Boll (38) und Roßkopf (50) haben mit der Nationalmannschaft so viel erlebt, dass sie kein rauschendes Fest mehr brauchen, selbst dann nicht, wenn die Medaille ganz besonders golden glänzt. Beide wissen die einzigartige Dominanz in Europa einzuordnen. Roßkopf sagte nach dem Turniersieg ohne Matchverlust sogar: "Wenn wir in dieser Form zur Team-WM oder den Olympischen Spielen 2020 reisen, werden wir sicher nichts gewinnen."
Die Turniere in Busan/Südkorea und Tokio stellen für Boll und Co. die ultimativen Herausforderungen dar, den EM-Titel nahmen sie dagegen beinahe im Vorbeigehen mit. Boll kam "mehr oder weniger aus dem Urlaub" nach Nantes, auch die ebenfalls nicht bezwingbaren Dimitrij Ovtcharov und Patrick Franziska kamen ohne nennenswerte Vorbereitung aus. Für die Duelle mit China, Japan oder Südkorea wird das deutsche Top-Trio mehr Anlauf benötigen.
Die Zeit dafür ist da, nach den Erfolgen bei den Europaspielen in Minsk können Deutschlands Spitzenspieler auf kräftezehrende Qualifikationsturniere für Tokio verzichten. Auch am Selbstvertrauen mangelt es nicht, Franziska sprach nach der Machtdemonstration in Nantes von der "vielleicht" besten deutschen Mannschaft der Geschichte: "Vielleicht haben wir eine so große Chance auf den ganz großen Coup wie noch nie."
Roßkopf freut die Ansage seiner Nummer drei, wie seine Schützlinge ist auch er "heiß auf die großen Titel". Er weiß jedoch auch, dass der EM-Durchmarsch keine Rückschlüsse für die Höhepunkte im kommenden Jahr zulässt. "Der Weg bis nach Tokio ist weit, dort müssen wir fünf Spiele in der Gruppe absolvieren. Timo und Dima sind über 30 und Patrick war schon häufiger angeschlagen", sagte Roßkopf. Er hat längst gelernt: Für den ganz großen Coup muss alles passen.
Auch die Form der oft übermächtigen Gegner aus China. Die leisten sich jedoch nur sehr selten einen Durchhänger, fast ausgeschlossen ist er bei den größten Turnieren des Tischtennisjahres. WM-Gastgeber Südkorea und die Japaner bei den heimischen Sommerspielen werden ebenfalls besser besetzt sein als Portugal, Frankreich oder Russland bei der EM. Springt in Busan oder Tokio dennoch Gold heraus, dürften sogar Boll und Roßkopf ihre gemütlichen Hotelzimmer für die Siegesfeier verlassen.
Der Herren-Erfolg erfüllte die Erwartungen des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) immerhin zur Hälfte. Denn die favorisierten DTTB-Damen hatten wenige Wochen nach dem Europaspiele-Sieg schon im Viertelfinale ihre Titelhoffnungen begraben müssen. Im Endspiel holte Rumänien wie vor Jahren durch ein 3:0 gegen Deutschland-Bezwinger Portugal den Titel.
Autor: DOSB/SID